“Auf allen Ebenen: politisch, moralisch, spirituell, materiell, wird man erfahren, was hinter dem Fortschritt steht: der Tod.
Was für eine Herausforderung! Entweder das Auschwitz der Natur oder das Stalingrad der Industrie
Jede Predigt ist nutzlos. Der Fortschritt wird sich nur selbst aufhalten, dank der Katastrophen, die er verursachen wird”.
So schrieb Mitte der 1970er Jahre ein Schweizer Dichter, dessen Name nicht auf der Liste der Vorläufer der Katastrophenpädagogik steht, die den Anhängern des “Schrumpfungsparadigmas” [decrescita] so sehr am Herzen liegt. Ihr unbestrittener Lehrer Serge Latouche äußerte sich immer auf optimistische Weise, dass Katastrophen, das Bewusstsein zu wecken im Stande seien; ja… aber welches? Das der politischen Klasse, getrieben von der Kraft der Ereignisse, eine verlorene Menschlichkeit die durch eine lang anhaltende toxische Abhängigkeit vom Konsumismus taub, blind und stumm gemacht wurde, wieder auf den richtigen Weg der Bescheidenheit zu bringen. Es handelt sich um eine Überzeugung, die auch heute noch nach außen dringt, wo etwa die Hälfte der Weltbevölkerung zu Hause eingesperrt ist, um einem Virus zu entgehen, von dem angenommen wird, dass er für den Tod von über 100.000 Menschen auf der ganzen Welt verantwortlich ist.
Und es seien die Anarchisten, welche die Naiven, die Verblendeten wären, die hinter dem Mond leben würden! Da haben wir Glück, dass diejenigen als pragmatisch, konkret, mit den Füßen auf dem Boden stehend, betrachtet werden, die vorgeben, dass der Frieden in der Welt durch Armeen garantiert wird, dass die Ziele der Banken ethisch sind, oder dass das Parlament “die Entkolonialisierung des Imaginären” übernimmt!
Zur Untermauerung seines Arguments erinnert Latouche unter anderem daran, dass die schlimme und hässliche Katastrophe, die durch den “großen Smog von London” verursacht wurde – die Stagnation einer Mischung aus Nebel und Kohlenrauch, die vom 5. bis 9. Dezember 1952 in der britischen Hauptstadt 4.000 unmittelbare Todesopfer und 10.000 in der Folgezeit forderte – vier Jahre später zur Einführung des schönen und guten Clean Air Act führte. Der arme Mann vergisst nicht nur, dass der Kohleverbrauch seither nie zurückgegangen ist, im Gegenteil, er ist gekoppelt an die Umweltverschmutzung in der Metropole gestiegen, sondern dass bereits in Donora (USA) vom 26. bis 31. Oktober 1948 eine Mischung aus Nebel und Rauch aus den Stahlwerken 70 Todesopfer gefordert und die Lungen von 14.000 Einwohnern zerstört hatte.
Ebenso wenig scheint die Katastrophe, die sich am 1. Juni 1974 in der Chemiefabrik in Flixborough (England) ereignete, dazu gedient zu haben, die darazf folgende in Beek (Holland) am 7. November 1975 zu verhindern, und beide verhinderten auch nicht den Dioxinaustritt, der sich am 10. Juli 1976 in Seveso (Lombardia – Italien) ereignete. Welche Lehren sind aus diesen drei tragischen Erfahrungen gezogen worden? Keine einzige. Tatsächlich stand das Schlimmste noch bevor, und dieses geschah am 3. Dezember 1984 in Bophal (Indien), als es zu einem regelrechten Blutbad kam: Tausende von Toten und über eine halbe Million Verletzte aufgrund eines Methyl Isocyanat-Lecks. Wurden deshalb die Chemiewerke schließlich geschlossen? Natürlich nicht, und man kann auch nicht sagen, dass die industrielle Nutzung von schädlichen Stoffen reduziert wurde, wenn wir an den Zyanidausfluss denkt, der am 31. Januar 2000 in einer Goldmine in Rumänien begann und das Wasser mehrerer Flüsse, unter anderen die Donau, vergiftete.
Und haben uns die Katastrophen, die durch die Produktion des schwarzen Goldes verursacht wurden, jemals etwas gelehrt? Die Havarie eines ExxonMobil-Tankers, der am 24. März 1989 in der Prince-William-Straße in Alaska auf Grund lief und mehr als 40 Millionen Liter Öl ins Meer austraten, verhinderte sicherlich nicht den Untergang des Tankers Haven, der am 14. April 1991 50.000 Tonnen Rohöl in die Tiefen des Mittelmeers verteilte, nachdem dabei 90.000 Tonnen unter freiem Himmel verbrannten. Eine Lapalie im Vergleich zu dem Unfall vom 20. April 2010 im Golf von Mexiko, bei dem zwischen 500 und 900 Millionen Liter Rohöl 106 Tage lang von der BP-abhängigen Plattform Deepwater Horizon ins Meer ausflossen.
Oder sprechen wir über die tödlichste der Energieindustrien, die Kernkraft? Ohne die 130 Unfälle der letzten fünfzig Jahre zu erwähnen, hat vielleicht der Unfall im US-Kraftwerk Three Mile Island am 28. März 1979 den Unfall im russischen Kraftwerk Tschernobyl am 26. April 1986 verhindert? Ganz und gar nicht, im Gegenteil dazu haben diese “Vorfälle” bei den Menschen zu einem Gewöhnungseffekt beigetragen, sich auch mit der Tragödie, die am 11. März 2011 in Fukushijma geschehen ist, abzufinden. Zu dem Maße, dass u.a. die USA, Russland und Japan auch heute noch unerschrocken die Atomenergie nutzen.
Nehmen wir nun an (ohne Gewähr), es gäbe wirklich die Bereitschaft zu lernen, was könnte uns die gegenwärtige Epidemie, die die ganze Welt terrorisiert, also lehren? Dass wir auf Abholzung, Verstädterung, Flugzeuge verzichten sollten… oder dass die wissenschaftliche Forschung verstärkt, Impfungen zur Pflicht gemacht und die Kontrolle der “kompetenten” Behörden zunehmend ausgeweitet werden sollte? Mit anderen Worten, sollte der Fortschritt mit seinen tödlichen Auswirkungen gestoppt oder beschleunigt werden, um sie zu überwinden? Es besteht kein Zweifel daran, dass die Notwendigkeit, Wohlstand durch staatlich gelenkte Entwicklung zu erreichen, für fast alle ein Axiom bleibt, ein Tabu, das so absolut ist, dass es nicht einmal verkündet werden muss. Das ist die Normalität, deren Rückkehr lautstark gefordert wird und die keinen Ausweg aus ihren falschen Alternativen bietet. Durch Ministerialerlass suspendiert, wird sie in noch verrohterer Form wiederhergestellt. Das Recht auf das nächtliche Ausgehen [movida] wird mittles einer Drohne über dem Kopf gestattet.
Der pädagogische Katastrophismus ist nur das extreme Heilmittel des Determinismus. Alle Gebete zum befreienden Schicksal der Vernunft oder des Fortschritts oder des Proletariats oder der inneren Widersprüche des Kapitalismus fanden im Staub der Geschichte ihr Ende… es bleibt nur noch eine plötzliche planetarische Tragödie, die denjenigen ein Happy End verspricht, die nie aufhören, darauf zu warten, dass etwas geschieht, anstatt zu handeln, um dies geschehen zu lassen.
[13/4/20]